von Verena Donislreiter
Nach langen Vorbereitungen war es Mitte Juni 2015 endlich soweit: Es ging wieder nach Kenia! Zum dritten Mal sollte ich mich nun ins Flugzeug nach Nairobi setzen, doch dieses Mal mit stapelweise Umfragebögen im Gepäck. Für meine Masterarbeit hatte ich vor, eine Feldforschung zum Thema Hunger und Armut im Massailand durchzuführen.
Zu dem Studium im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit an der University of Reading in England habe ich mich entschlossen, um endlich Antworten auf meine unzähligen Fragen zu den Hintergründen der Armut zu finden, mit der ich bei meinen vorherigen Besuchen in Kenia konfrontiert wurde. Was mich dabei vor allem beschäftigte war, warum Hunger in einem aufstrebenden Land wie Kenia nach wie vor weit verbreitet ist. Durch meine Feldforschung hoffte ich deshalb Antworten zu finden.
Begleitet von Daniela Magiera, der Schriftführerin von Ambatana, ging es daher für drei Wochen zu unserer Partnerorganisation YISOG. Die Reisekosten wurden dabei selbstverständlich aus eigener Tasche bezahlt, beziehungsweise über ein Stipendium meiner Universität abgedeckt.
Ankunft in Kenia
Vor Ort gab es viel zu tun: Neben der Feldforschung hatten wir Besprechungen mit dem YISOG-Komitee zur Vereinsarbeit und den gemeinsamen Plänen für die Zukunft. Außerdem besuchten wir einige Kinder, die über Patenschaften von Ambatana unterstützt werden, wie zum Beispiel Oltitiyo.
Der 12-jährige Junge ist vor sechs Jahren erblindet und geht dank einer Patenschaft seit Anfang 2014 auf eine Blindenschule in der Nähe von Nairobi. Wir besuchten ihn dort und waren beeindruckt. Ich kannte Oltitiyo bereits von meinem letzten Besuch in Kenia, als er noch auf eine staatliche Schule ging und sehr verunsichert wirkte. Nun war er selbstbewusst, offen, machte Scherze und ist sogar Klassenbester!
Seine Familie und das ganze Heimatdorf im Massailand sind nun sehr stolz auf ihn, nachdem er zuvor wegen seiner Behinderung eher versteckt wurde. Oltitiyos Entwicklung ist deshalb ein wichtiges Beispiel in seiner Heimat, dass eine Behinderung keine Schande ist und großes Potential in allen Kindern steckt.
Die Feldforschung
Neben den Team-Besprechungen und Besuchen von Patenkindern stand die Feldforschung im Mittelpunkt. Father Tito, der Leiter von YISOG, war dabei unabdingbar. Durch sein breites Netzwerk an Helfern, stellte er Kontakt zu potentiellen Forschungsteilnehmern her und dadurch konnte ich insgesamt fast 100 Personen in Einzelinterviews und Gruppendiskussionen befragen. Der Zeitplan war dementsprechend straff und wir verbrachten einige Nächte im Zelt um uns die tägliche Fahrt von Father Titos Zuhause ins Massailand zu sparen.
Das allein war eine Erfahrung für sich: In einem der abgelegenen Dörfer durften wir auf dem abgezäunten Grundstück einer Familie zelten. Für den Zaun war ich nachts sehr dankbar, da man schon tagsüber einigen Wildtieren begegnen konnte. Um das Grundstück herum sah man weit und breit nur Flachland und ein paar kleine Büsche. Dass Wasser hier ein Problem ist, war offensichtlich. Einige Kinder waren von oben bis unten mit braunem Staub bedeckt. Die Kühe zogen dicke Fliegenschwärme an, die um die Kinder kreisten. Als mir unsere Gastfamilie am Morgen eine Tasse frische Milch einschenkte, wusste ich gar nicht wie ich trinken sollte, ohne Fliegen zu verschlucken.
Trotz der harten Lebensbedingungen in den abgelegenen Gebieten waren die Menschen unglaublich gastfreundlich, hilfsbereit und ehrlich. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass die Leute so offen über ihre persönlichen Probleme und Wünsche mit mir reden würden. Diese Bereitschaft hat mich sehr beeindruckt.
Als wir beispielsweise in einem Dorf ankamen, wurden wir bereits von einer Gruppe an Frauen erwartet. Leider hatten wir einige Stunden Verspätung, aber die Frauen warteten trotzdem geduldig bis in den späten Nachmittag auf uns. Nach einem herzlichen Empfang mit Gesängen und Tänzen war das Eis sofort gebrochen und die Interviews waren überaus aufschlussreich.
Durch die Offenheit konnte ich Unmengen an Informationen sammeln und Sichtweisen einfangen. Die Meinungen der Menschen vor Ort waren dabei nicht nur von persönlichem Interesse, sondern auch ein wichtiger Bestandteil meiner Forschung. Deshalb wurden viele unterschiedliche Personengruppen befragt, wie zum Beispiel Frauen und Männer aus ärmeren und wohlhabenderen Familien, Dorfälteste, medizinische Fachkräfte, Lehrer, Mitarbeiter von anderen Hilfsorganisation und des Bildungsministeriums.
Am Anfang hatte ich durchaus meine Bedenken, wie die Menschen auf meine Fragen und die Gruppendiskussionen reagieren würden. Auch für mich war eine solche Forschung völliges Neuland. Eine der großen Herausforderungen war dabei den Spagat zu schaffen zwischen einem bestimmten, professionellen Auftreten als Studentin und Mitglied von Ambatana und einem kulturell angemessenen Verhalten als junge Frau.
Zum Beispiel bat uns Father Tito vor einem Treffen mit Dorfältesten, die Männer mit dem Kopf anstatt der Hand zu begrüßen. Wir hatten kein Problem damit, da wir wussten, dass diese Begrüßung sehr üblich ist. Dabei beugt der Jüngere den Kopf und der Ältere legt darauf kurz – und mehr oder weniger fest – seine Hand.
Als später Männer in unserem Alter die Dorfältesten mit einem Handschütteln begrüßten, war ich allerdings verwundert. Ich fragte die jungen Männer, die nur lachten und erklärten, dass die Kopf-Begrüßung für Kinder und Frauen aber nicht für Männer üblich wäre. Das brachte mich zum Nachdenken – werden dadurch Frauen nicht auf die gleiche Stufe gestellt wie Kinder?
Zu meiner Überraschung behandelten uns die Dorfältesten jedoch nach der Kopf-Begrüßung nicht abschätzig, sondern begegneten uns mit großem Respekt, da wir „Wertschätzung und gute Manieren zeigten“, so einer der Ältesten. Im Gegenzug waren die Männer in den Interviews sehr aufgeschlossen und überaus hilfsbereit, was wiederum meiner Feldforschung zu Gute kam. Entgegen meiner anfänglichen Bedenken waren dadurch die Gespräche mit Männern geprägt von einem respektvollen Umgang und sehr aufschlussreich.
Die wichtigsten Ergebnisse
Zwei Punkte kamen während der Feldforschung bei allen Teilnehmern immer wieder zur Sprache: Zum einen die Dürreperioden, die durch den Klimawandel länger und unvorhersehbarer werden, und wodurch jedes Jahr unzählige Tiere sterben wegen Mangel an Wasser und Weideflächen sowie einer höheren Anfälligkeit für Krankheiten. Zum anderen die Schulgebühren, die eine große Belastung für Familien darstellen, da Tiere verkauft werden müssen um die Kosten für den Schulbesuch zu decken.
Durch diese beiden Punkte schwindet die Existenzgrundlage vieler Familien – die Viehwirtschaft. Dies bedeutet nicht nur, dass weniger Milch (das Hauptnahrungsmittel der Massai) zur Verfügung steht, sondern erschöpft auch die Möglichkeit Vieh zu verkaufen, um Ausgaben abzudecken, wie zum Beispiel Arztkosten.
Diese Abwärtsspirale war in vielen Familien zu beobachten. Vor allem die Dürre im Jahr 2009 setzte der Region sehr zu. Laut Berichten eines kenianischen Forschungsinstituts1 starben zwischen 70 und 90 % der Tiere während dieser Dürreperiode, die somit als schwerwiegendste seit Satellitenaufzeichnung 1980 in die Bücher eingegangen ist.
In den Gesprächen mit Familien im Massailand zeigte sich, dass sich bisher keine einzige der befragten Familien vollständig von der Dürre 2009 erholt hatte. Als Grund dafür wurden vor allem die verhältnismäßig hohen Schulgebühren genannt. Die untenstehende Tabelle zeigt die Veränderung des Viehbestands einer Familie vor und nach der Dürre. Ähnliche Zahlen wurden von anderen Befragten angegeben.
Trotz der hohen Kosten wurde Bildung als Schlüssel zu einem besseren Leben empfunden. Weil die Viehwirtschaft angesichts des sich verändernden Klimas und der fortschreitenden Landprivatisierung immer schwieriger wird, sehen viele den Schulbesuch ihrer Kinder als wichtige Investition und Wegbereiter in eine Zukunft außerhalb der Viehwirtschaft.
Dabei machten die Befragten zwei wichtige Unterschiede: 1) Viehwirtschaft als Einkommens- und Lebensgrundlage und 2) Viehbesitz als Status. Ersteres ist zunehmend schwierig umzusetzen und scheint daher immer weniger angestrebt zu sein. Das Zitat eines Familienvaters im Massailand spiegelt diese Einschätzung wieder:
„Die Viehwirtschaft unter den Maasai wird langsam ein Ende nehmen – aber das ist schon in Ordnung. Die Kinder gehen jetzt zur Schule und haben keine Zeit mehr, um Kühe zu hüten. Außerdem werden Weideflächen durch die Landprivatisierung immer weniger. Also wie soll die Viehwirtschaft in Zukunft möglich sein? Und übrigens, es ist sowieso besser in Bildung zu investieren als in Vieh: Kühe sterben während einer Dürre, Bildung nicht.“
Diese Meinungen von den Menschen im Massailand waren mir sehr wichtig. Ich bin unendlich dankbar dafür, dass ich durch die Feldforschung direkt mit den Menschen sprechen konnte, um ihre Einschätzungen, Probleme und Hoffnungen zu verstehen.
Ein Fazit
Nicht nur für mich persönlich waren die vielen Gespräche sehr bereichernd. Auch für unsere Vereinsarbeit stellt die Feldforschung eine wichtige Basis dar, um auf ihren Erkenntnissen aufzubauen. Der Wunsch nach Bildung und die gleichzeitig hohe Belastung durch Schulgebühren untermauern unseren bisherigen Ansatz, Kinder bei den Kosten für den Schulbesuch zu unterstützen. Dadurch soll Familien ermöglicht werden, sich von Dürreperioden besser zu erholen und die Abwärtsspirale im Viehbestand zu durchbrechen.
Bis dahin wird es weiterhin wichtig sein, Familien mit Lebensmitteln zu unterstützen, um Dürren besser überbrücken zu können. Dies soll vor Unterernährung in den sogenannten „Hunger-Monaten“ schützen und verhindern, dass Vieh aus der Not heraus zu einem viel zu niedrigen Preis verkauft wird.
Die Feldforschung hat uns außerdem weiter von der Notwendigkeit und Dringlichkeit des geplanten Rescue Centers bzw. „Hauses der Gemeinschaft“ überzeugt. Das große Ziel von Ambatana und YISOG ist der Bau eines Hauses, das als neues Zuhause für Waisenkinder und als Zufluchtsort für Mädchen dienen soll, die vor Zwangsheirat und Beschneidung fliehen. Das Grundstück dafür wurde von YISOG bereits vor mehreren Jahren erworben.
Angesichts schwindender Lebensgrundlagen sehen Familien oft keinen anderen Ausweg, als ihre Töchter früh zu verheiraten, um eine Person weniger ernähren zu müssen und für die Verheiratung eine Mitgift in Form von Kühen oder Ziegen zu erhalten.
Das Haus soll als erste Anlaufstelle für Mädchen dienen, um dann gemeinsam mit den Familien langfristige Lösungen zu finden. Präventiv versuchen wir durch die Übernahme von Schulgebühren und Unterstützung bei der Lebensmittelversorgung solche Situationen im Vorhinein zu verhindern. Das Haus soll außerdem als Anlauf- und Beratungsstelle für Familien dienen, die in Not geraten sind.
Um diese Hilfe zu leisten und die Pläne für das Haus der Gemeinschaft umsetzen zu können, freuen wir uns über jede Unterstützung! Ob durch eine Patenschaft für Kinder, eine aktive oder fördernde Mitgliedschaft im Verein oder eine Spende – wir können jede Unterstützung gebrauchen.
Die ausführlichen Ergebnisse der Feldforschung können Sie in der Masterarbeit von Verena nachlesen: Vulnerability to food insecurity among Maasai pastoralists in Kenya: Is there a future for pastoralism? Die Arbeit wurde ausgezeichnet als beste Masterarbeit der Fakultät.
Fußnoten:
1 Zwaagstra, L., Sharif, Z., Wambile, A., de Leeuw, J., Said, M.Y., Johnson, N., Njuki, J., Ericksen, P. & Herrero, M. (2010). An assessment of the response to the 2008-2009 drought in Kenya. A report to the European Union Delegation to the Republic of Kenya. ILRI (International Livestock Research Institute), Nairobi, Kenya.